WIEDERGEWONNEN BEWIRTSCHAFTET ENTMYTHOLOGISIERT
ORTE UND MENSCHEN DER WEST–UND NORDGEBIETE 1945—2020
Aufgrund der in Jalta getroffenen und 1945 bei der Potsdamer Konferenz gebilligten Entscheidungen von drei Mächten, die das Dritte Reich besiegt hatten, wurden an Polen die West und Nordgebiete angeschlossen. Sie umfassten eine Fläche von 103,8 Tsd. Quadratkilometern, was einem Drittel des Gebiets des gegenwärtigen polnischen Staates entspricht. Es war ein Ausgleich für die verlorenen Ostgebiete der Zweiten Polnischen Republik.
Infolge dieser Beschlüsse wurden 1945–1948 aus den ehemaligen deutschen Gebieten etwa 3 Mio. Deutsche ausgesiedelt. In ihren Häusern blieb über eine Million von Angehörigen der einheimischen (autochthonen) Bevölkerung: Schlesier, Kaschuben, Masuren und Ermländer. Vor Ort verblieb ebenfalls ein Teil polnischer Zwangsarbeiter und Insassen von Konzentrationslagern, die sich hier zum Zeitpunkt des Kriegsendes befanden.
1945 setzte eine massive Aktion der Besiedlung und Bewirtschaftung der West und Nordgebiete durch verschiedene Bevölkerungsgruppen ein. Die größte von ihnen, die 2,9 Mio. Personen zählte (annähernd 50% der gesamten Bevölkerung), stellten Siedler aus Zentralpolen dar. Eine weitere große Gruppe waren Polen aus den Ostgebieten, d. h. aus den zugunsten der Sowjetunion verlorenen Regionen. In zwei Migrationswellen (1945–1948 und 1956–1959) kamen 1,8 Mio. Repatriierter in die Wiedergewonnenen Gebiete. Einen neuen Wohnort fanden dort ebenfalls ca. 400 Tsd. polnischer Zwangsarbeiter aus den vier Besatzungszonen Deutschlands.
Um 240 Tsd. neuer Einwohner waren polnische Rückkehrer aus Frankreich, Belgien, Rumänien, Jugoslawien, der Tschechoslowakei und England. Eine ganz besondere Gemeinschaft machten die in West und Nordgebieten stationierten, 100–150 Tsd. Mann starken Truppen der Sowjetarmee aus.
1947–1950 wurden dorthin etwa 140 Tsd. Ukrainer und Lemken aus Südostpolen zwangsübersiedelt. Gemeinsam mit Juden, Roma sowie politischen Flüchtlingen aus Griechenland und Mazedonien bildeten sie ein eigenartiges Nationalitäts und Ethnienmosaik der neuen Gesellschaft der West und Nordgebiete. 1946 hielten sich in den Wiedergewonnenen Gebieten bereits 5 Mio. alter und neuer Einwohner auf. 1955 erreichte deren Zahl 7 Mio.
2020 jährte sich zum 75. Mal der Anschluss der West- und Nordgebiete an Polen. Es wurde ebenfalls der 120. Geburtstag von Zygmunt Wojciechowski begangen, dem Gründer und Namensgeber des West-Instituts. Er wurde am 27. April 1900 in Stryj bei Lemberg geboren, in einer Familie, deren mehrere Mitglieder in polnischen Aufständen gekämpft hatten, als ältestes Kind des Literaturhistorikers Konstanty Wojciechowski und Leontyna, geborene Buczkowska.
Wojciechowski wurde wesentlich durch die in Lemberg lebendige nationale Bewegung geprägt und gehörte dem Klub des 11. November an. Eine besondere Rolle in seiner intellektuellen Entwicklung spielte die Arbeit „Deutschland, Russland und die polnische Frage“ von Roman Dmowski, die er bereits im Gymnasium las und die eine Grundlage für das später von ihm formulierte Konzept der „polnischen Stammgebiete“ wurde. Während seines Jura-, Geschichts- und Philosophiestudiums in Lemberg lernte er Oswald Balzer und Jan Ptaśnik kennen, die einen großen Einfluss auf ihn ausübten.
Im Ersten Weltkrieg ließ Wojciechowski sich in die Polnischen Legionen anwerben und nahm an der Verteidigung Lembergs teil, wofür er mit dem Orden Krzyż Obrony Lwowa ausgezeichnet wurde.
Ein Jahr nach Abschluss seiner Studien an der Johann-Kasimir-Universität in Lemberg und Erlangung des Doktorgrades in Philosophie kam Wojciechowski 1925 nach Posen, wo er die Stelle des stellvertretenden Professors am Lehrstuhl für die Geschichte des Staats und altpolnisches Recht an Fakultät für Jura und Wirtschaft der Universität Posen antrat. Im selben Jahr habilitierte es sich erfolgreich in Posen. Seit 1929 war er außerordentlicher und seit Januar 1937 ordentlicher Professor der Universität Posen.
Bereits vor dem 2. Weltkrieg hat Wojciechowski das Konzept der „polnischen Stammgebiete“ entwickelt. Darüber hinaus popularisierte er das Wissen über die Westgebiete und arbeitete aktiv mit Forschungsstätten für die polnischen Westgebiete und die deutsch-polnische Problematik zusammen,
u. a. mit der Wissenschaftlichen Gesellschaft in Thorn, dem Oststee-Institut in Thorn und Gdingen, dem Schlesischen Institut in Kattowitz und der Gesellschaft der Freunde von Wissenschaft und Kunst in Danzig.
Seit 1935 wurden auf Anstoß und unter der Leitung von Wojciechowski konspirative Vorträge in Ostpreußen veranstaltet, vor allem zu historischen Themen und zur Geschichte der polnischen Literatur und Kunst. Unter der deutschen Besatzung war Wojciechowski in der Konspiration tätig. Er lehrte an der Universität für die Westgebiete in Warschau und betreute die Dissertationen von Z. Kaczmarczyk und K. Kolańczyk. 1941 wurde er Leiter des West-Studiums, seit 1944 auch der Abteilung Wissenschaft im Fachbereich Information der Polnischen Regierungsdelegation. Er war einer der Gründungsmitglieder der Organisation „Ojczyzna“ („Vaterland“) und arbeitete an Konzepten neuer Westgrenzen des Nachkriegspolen.
Im Dezember 1944 veranstaltete er eine erste, konspirative Gründungsversammlung einer neuen
Einrichtung, und zwar des West-Instituts, das nach Kriegsende zur wichtigsten Institution wurde, die sich mit den nach dem 2. Weltkrieg Polen zugeschlagenen Gebieten und mit den deutsch-polnischen Beziehungen beschäftigte. Bis zu seinem Tod 1955 war Wojciechowski Leiter dieses Instituts, das seit 1984 seinen Namen trägt.